Das Träumen von Büchern

Es ist wieder da. Dieses Wunder. Ich wache ganz früh auf, nehme mir im Kopf die kommende Situation in meinem Roman vor, schlafe sofort wieder ein und träume die nächste große Szene. Dann kann ich gar nicht schnell genug Frühstück machen und den Computer einschalten - denn ich muss nur noch diesen Traum in die Tasten hacken. Währenddessen bin ich so sehr fern dieser Welt, werden die Personen im Roman derart lebendig, dass ich mich gegen Mittag schütteln muss, um Fiktion nicht mit Realität zu verwechseln. Ein Spaziergang im Regen ist schon einmal nötig, um festzustellen, dass wir tatsächlich nicht das Jahr 1909 schreiben. Nachts geht der Kreislauf von Neuem los ... ich träume irrwitzig bunt und aufregend. Dinge, die nichts mit dem Roman zu tun haben, mich aber auf innere Spuren bringen. Und morgens die nächste Szene. Wer kann schon von sich sagen, dass die Arbeit im Schlaf gelingt?


Zehn Jahre lang habe ich mit der Grundidee zu diesem Roman gekämpft und seit vielen Jahren auch keinen Roman mehr geschrieben. Übrig geblieben von der Idee sind immer nur ein Koffer, ein uralter seidener Sonnenschirm von einer Reise mit einem Dampfer, ein alter Gehstock ... Zwischendurch habe ich sogar geglaubt, ich könne überhaupt nicht schreiben. Brache über so viele Jahre, in denen andere Bücher entstanden, aber auch viel künstlerischer Leerlauf mich schier verrückt machte. Schreiben, was "man" schreiben sollte, weil es so schön läuft - das wollte ich nie.

Und nun die Erkenntnis, dass da gar kein Leerlauf war. Man schreibt auch, wenn man scheinbar nichts tut. Das bemerke ich erst jetzt beim Tippen, um wie viel ich gewachsen bin. Handwerkliche Dinge, die mir früher unendlich schwer fielen, für die ich tagelang Notizen machen musste - das fliegt mir jetzt zu. Meine Figuren flüstern mir Dialoge zu wie in einem Film. Ich staune, wie sie Neugier wecken, für Spannung sorgen, Andeutungen machen. Ich wundere mich, wie sich meine größten Probleme in Wohlgefallen auflösen: Zwei Handlungen zu zwei völlig unterschiedlichen Zeiten und eine davon läuft auch noch rückwärts davon ... Lachhaft, dieses Problem, für Leute, die ordentlich plotten. Mir hat es Knoten im Kopf verursacht, weil ich beide Zeiten auch noch in Berührung bringen will. Und jetzt läuft es einfach in die Tasten.

Dabei sollte ich mir völlig andere Gedanken machen. Das legen jedenfalls Diskussionen nahe, wie ich ihnen täglich geballt auf Facebook begegne. Demnach interessiert sich die aufgeschlossene moderne Autorin von heute vornehmlich für Bestsellerlisten, massenverkäufliche Stoffe, Profit, Marketing, Bestsellerlisten, publikumswirksame Stoffe, nochmal Profit und all diesen Ranking-Kram ... und wie man effektiv an die Spitze gelangt. Eigentlich sollte das künftige Ranking am besten gleich wie Blut aus der Feder laufen. Was, du schreibst kein Genre? Was, du bist nicht in einer der meistverkauften Schubladen drin? Du schaust nicht mindestens zehn Mal täglich ins Amazon-Ranking und bastelst nach jedem Kapitel heiße Marketingaktionen? Wie ewig gestrig. So wird nie etwas aus dir. Schau dir die Kolleginnen und Kollegen an, die das dicke Geld scheffeln. Die machen es richtig.

Aha. Machen es all die, die nicht in der Bestsellerliste stehen, dann falsch? Warum aber kaufen Menschen Bücher, die nicht Topseller sind? Es ist eine seltsame Entwicklung. Zuerst hatten einzelne Autoren es über, dass in Konzernverlagen bereits Manuskripte hauptsächlich auf potentiellen Profit abgeklopft wurden. Jetzt ahmen Self Publisher die Konsumhaltung fast identisch nach, schreiben die Ware, die sich in kaum etwas von der Ware großer Verlage unterscheidet. Wo bleibt das Experiment? Das "Andere", das Ausloten inhaltlicher wie literarischer Chancen? Ich fühle mich ein wenig wie auf dem Mond und stelle fest, so eng darf eine vermeintlich freie Welt nicht sein. Eine in Verlagen nicht und eine außerhalb erst recht nicht. Wo bleiben die Fragen von künstlerischem oder literarischem Belang?

Ich genieße die Freiheit in vollen Zügen. Es ist schon Luxus, sich zehn Jahre Zeit zu nehmen, bis man endlich Text tippt, mit dem man halbwegs zufrieden ist. Noch größerer Luxus ist es offenbar, sehenden Auges eine Geschichte zu schreiben, von der man keine Ahnung hat, ob sie sich je verkaufen wird. Noch schlimmer: Mit der man gar nicht erst darüber nachdenken möchte, was sie auf einem wie auch immer gearteten "Markt" erreichen wird. "L'art pour l'art", die Kunst nur um der Kunst willen ... das war einst ein Schocker für eine ganze Generation. Der Schocker der heutigen Zeit scheint zu werden, sich einfach vollkommen auszuklinken aus allen Systemen ... und völlig autistisch auf die eigene Geschichte zu hören, sich mit ihr auseinanderzusetzen, zu schöpfen ohne Zweckgebundenheit. Kreation ohne die Frage des Wieviel und des Wozu. Eine ganze Welt will entstehen, Figuren werden lebendig. Und ihre einzige Rechtfertigung ist die Tatsache, dass sie atmen wollen.

Geldwert. Ranking-Werte. Marketing-Effektivität. Markenbewusstseinsgrade. Treffsicherheit von Strategien. Zahnpasta und Fußpilzsalbe. Etwas anderes scheint die Ware Buch nicht mehr zu sein. Eine neue Fußpilzsalbe gefällig? Auch als Zahnpasta verwendbar, echt für die ganz großen Massen geeignet. Viral wie Fußpilz wird die Marke von Dr. Möchtebest verkauft. Der beste Dr. Möchtebest verkauft sich gleich selbst mit. Im Fußpilzsalbendoppelpack.

Manchmal, wenn man ganz still ist, hört man Bücher weinen. Manchmal strafen Leser solche Ideen Lügen und putzen sich die Zähne nicht. Oder wollen barfuß im feuchten Sand eines Strandes laufen und spüren, wie der Schlamm durch die Zehen quietscht. Manchmal wollen Texte befreit werden und Figuren atmen.

Vielleicht ist es das, was mich im Moment am meisten euphorisch macht. Mir ist all dieses Marktgedöns und Geschwätz, was man muss und was man nicht darf, so herzlich egal. Ich habe meine Macht abgegeben und lasse mich von meinen Figuren an der Hand führen, wie in einem Traum. Ich bin jeden Morgen beim Aufwachen aufs Neue überrascht, wohin sie mich bringen, und am Abend nach dem Schreiben auch. Selbst die Leserinnen und Leser, so schlimm das für sie klingen mag, sind mir egal. Würden sie zum jetzigen Zeitpunkt in meinem Roman herumtrampeln, käme ich mit meinen Zeitebenen nicht mehr zurande.

Jener alte Koffer, der schon mit dem Dampfer in den USA war, ist mir sozusagen zugelaufen, ohne dass ich auch nur einen Cent dafür bezahlt hätte. Aber ich habe mich nie von diesem Stück Leder und seinen Geschichten, die er erzählt, trennen können. Mit Geld ist er nicht aufzuwiegen. Bücher kann man träumen und dann werden sie so wertvoll wie eine Blumenwiese.

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