Ich schwärme euch jetzt voll!

Sag niemals nie! Ich wollte nie wieder etwas im Blog rezensieren und schreibe normalerweise auch nicht über andere Blogs. Trotzdem muss ich jetzt einmal hemmungslos schwärmen. Und das hat einen Grund: Ich will in diesem Jahr in sehr (!) loser Folge Mutmacherinnen und Mutmacher zu Wort kommen lassen - sie auch interviewen. Doch die Mutmacherin, um die es mir heute geht, arbeitet aus Gründen anonym, so dass ich mich entschieden habe, statt eines Interviews über ihr Blog zu schreiben. Es handelt sich dabei um einen meiner Geheimtipps der ersten Stunde, bei dem mir mein kleiner Finger schon in den Anfangszeiten sagte: Die Frau hat was, die kann was! Inzwischen frage ich mich, warum sie noch nicht von einem Verlag entdeckt worden ist, mir völlig unbegreiflich. Darum freue ich mich besonders, dass sie einen Preis für ihr Blog eingeheimst hat. Und ein sehr professionelles Podcast anbietet. Aber der Reihe nach ... mit der Notaufnahmeschwester und ihrer Rufbereitschaft.

Die Notaufnahmeschwester ist jemand mit goldenem Herz - solchen Krankenschwestern möchte man im echten Leben begegnen! Aber auch virtuell nimmt sie einem die Angst vor dem Krankenhaus. (Pixabay)



So hatte ich das vor wenigen Tagen formuliert und dann haben mich die Ereignisse überrollt: Die Frau mit dem tollen Blog ist heute offiziell in ihren neue Arbeitsstelle eingeführt worden. Und weil das auch vom epd gemeldet wurde, kann ich euch jetzt mehr verraten: Es geht um Inge Wollschläger, jetzt Ex-Notaufnahmeschwester, aber immer noch Journalistin - und künftig Seniorenreferentin in Würzburg. Es tut weh, dass eine so erfahrene Notaunahmeschwester mit goldenem Herz wie so viele Menschen in pflegenden Berufen aufgibt, weil das System genau diese Menschen mürbe macht, zerstört. Mir diesen Worten hat sie sich verabschiedet:
Vielleicht muss wirklich der Pflegekarren mal so richtig an die Wand gefahren werden, bevor sich was tut. Aber natürlich erst, nachdem ein Arbeitskreis gebildet wurde.
Und sie fragt, ob sie weiter bloggen soll! Das fragt sie ernsthaft, nachdem der Beitrag "Ihr Lappen!" den Goldenen Blogger gewonnen hat?

Ich glaube, ich bin Fan der ersten Stunde. Und muss dazusagen: Seit ich mit zwei Jahren einmal in ein Krankenhaus kam, in dem rüde Schwestern traumatisch agierten und Kinder noch unter Bettdecken festgebunden wurden, bin ich Krankenhauspanikerin. Nicht zuletzt Inges Blog hat mir viel von dieser Angst genommen, hat mich dazu gebracht, meine Perspektive zu ändern und auf die Menschen zu schauen. Wenn ich mich heute in einem Krankenhaus umschaue, sehe ich dank ihres Blogs plötzlich das "Menscheln" jenseits des Gesundheitssystems. Sehe die kleinen liebevollen Gesten, die unwahrscheinliche Anstrengung, etwa trotz Notfalldruck für Einzelfälle auszubremsen. Ich sehe die Verzweifelten und die egoman Fordernden, die vielleicht nicht sonntags mit Lappalien in der Notaufnahme säßen, wenn ihnen da draußen nur mal ein Mensch zuhören würde. Oder wenn es ausreichende medizinische Versorgung in ihrer Gegend gäbe. Ich sehe die kleinen Eitelkeiten von Ärzten und die Strategien, mit dem alltäglichen Wahnsinn fertig zu werden, ohne daran zu zerbrechen.

Und ich lerne, was schiefläuft. Nicht, weil es die Pflegenden schief anpacken, sondern weil sie immer ohnmächtiger in einem System zermahlen werden, das von Profitstreben geprägt ist und von den oft lebensfernen und unausgegorenen Ideen der Politik. Ich sage nur "Gesundheitsminister". Die sachverstandsfreien Ideen eines Selbstdarstellers machen das Blog der Notaufnahmeschwester so aktuell und wichtig wie nie zuvor! Weil wir diese Stimmen direkt von den Betroffenen brauchen. Die haben nämlich selten die Zeit, sich in Talkshows die Klinke in die Hand zu geben. Oder werden sie nur nicht oft genug eingeladen?

Genau an dieser Stelle entdecke ich, was die "Notaufnahmeschwester" ausmacht und von anderen Stimmen unterscheidet: Sie macht keine billige Politik, sie ist das Gegenteil einer verbitterten Anklägerin, sie hat es nicht nötig, mit erhobenem Zeigefinger aufzukreuzen - eher bescheiden nimmt sie sich selbst zurück, schaut auf ihr Umfeld, schaut genau hin und hört zu. Deshalb nervt sie nicht, sondern erzählt spannend, trotz der Schwere der Sujets unterhaltsam. Was wir in ihrem Blog lesen, ist das pure Leben, ein Leben hart am Abgrund, jenem schmalen Grat zwischen Wohlfühlen und Zusammenbruch, Dasein und Tod, Verzweiflung, Selbstmitleid und Beglückung bei den Beteiligten. Und darum führt uns dieses gelesene Leben nah an unser eigenes heran. Wir wollen über so viele Themen dieser Art gar nicht nachdenken, weil es schmerzt. Die Notaufnahmeschwester aber versteht sich darauf, uns einen Cocktail zu spritzen, der das aushalten lässt, der uns im Idealfall sogar vom Voyeur zum Mitfühlenden macht. Der Cocktail ist raffiniert und sogar in der Literatur erprobt: Da ist Humor drin.

Nicht der billige, laute Comedy-Humor, den es wohlfeil auf Krankenschein in Social Media so oft gibt. Der Humor der Notaufnahmeschwester kommt manchmal fast unmerklich und sehr leise daher, weil er das Liebevolle nicht übertönen mag. Dann wiederum kann er fast derb und schrill sein, ist aber nicht überdreht, sondern authentisches Abbild einer Ausnahmesituation, Ton einer Überforderung beim Personal, einer Verzweiflung einer Patientin. Das kann sie gut, die Notaufnahmeschwester: wertschätzend und mitfühlend um ein Problem kreisen, aber auch auf den eigenen Schutz achten: Bis hierher und nicht weiter! Wenn sie dann lospoltert, ist es das reine Vergnügen, ein doppeltes dazu, weil man ahnt: Diese Frau poltert Menschen nicht an, sie poltert im Blog.

Solche Texte sind natürlich nichts für Menschen, die Texte à la nichtssagend "nettes" Geschenkbuch lesen wollten, wie sie heutzutage massenhaft auftauchen und schnell wieder verramscht werden. Weil sie nach dem Motto funktionieren: "Mach mich nicht nass! Erwähne ja kein Thema, bei dem die Leser merken könnten, dass es ein Leben jenseits von Katzenbildchen gibt!"

Die Notaufnahmeschwester hat dafür etwas, das sonst nur Longseller bieten: Tiefe. Sie scherzt nicht einfach, sie hat selbst im Witz etwas zu sagen. Sie erzählt nicht alltäglich heitere Erlebnisse, um den Lesern zu signalisieren: Guck, Alltag kann ich auch. Ihr Alltag, selbst in seiner Banalität eines Hustens oder wehen Zehs, lenkt unseren Blick auf die Schicksale, die so unterschiedliche Menschen um eben jenen Zeh versammeln und einige davon in Begegnungen bringen, von denen sie vielleicht nie zuvor geträumt hätten. Wenn mir ein Stichwort zu Inge Wollschlägers Texten immer wieder in den Kopf gerät, dann ist es Humanität.

Nun kenne ich auch einige journalistische Texte von ihr und ihren Podcast (Zielpublikum mMn Fachkräfte aus der Pflege und Mediziner, aber auch für neugierige Laien spannend), so dass ich sicher nicht übertreibe, wenn ich sage, ihre Texte haben etwas Heilsames an sich. In einer Welt der Egomanie und Selbstdarstellung schreien wir förmlich nach Miteinander und mehr Menschlichkeit. In vielen dieser Texte geschieht, was die Voraussetzung dafür ist: das Berührtwerden. Es sind oft gar nicht so sehr die Verläufe der Stories, die berühren, es ist die Menschlichkeit dahinter. Und wenn ich solche Texte lese, frage ich mich unwillkürlich: Wann habe ich selbst das letzte Mal so liebevoll reagiert, so achtsam oder besonnen oder einfach nur fröhlich? Das steckt an ...

Sie spricht vom Krankenhausalltag und plötzlich kann eine Banane lebensverändernd sein. Ihre Bandscheibe weint - und sie weint all denen aus der Seele, die zuhause oder beruflich Demenzkranke pflegen. Aber dann sind da auch Geschichten, wo etwa die Paprika als Symbolbild herhalten muss und wir uns kräftig ablachen können, nicht ohne zu überlegen, welche Tragik wohl hinter einem solchen Fall stecken könnte. Wie machen die das nur, das alles auszuhalten, frage ich mich immer wieder. Und sie präsentiert einen Fall, voll im Drogenrausch, massiv überforderte Polizisten, die Notaufnahme soll's richten und die Situation ist heiß und turbulent. Da ist er wieder, dieser berufsspezifische Humor, ohne den das alles nie auszuhalten wäre. Und diese menschliche Sicht: „Wahrscheinlich“, sinnierte die Ärztin, „wahrscheinlich ist er im „anderen“ Leben ein richtig netter Kerl.“

Schreiben kann die Frau, das beweist sie auch bei weniger Hektik drumherum als Redaktionsmitglied des Rothenburger Sonntagsblatts und mit ihren Beiträgen für das "Klassik Radio" Hamburg und den Kirchenfunk des Bistums Würzburg. (Und ich habe mich gewundert, warum ihr Podcast so professionell daherkommt - allein ihre Sprechstimme!) Und das Schöne: Sie kann das ganz weltlich, weil sie uns am Leben berührt. Weil sie sehr aktuell einem viel zu missachteten Berufsstand eine Stimme gibt, aber vor allem uns allen, die wir krank sind oder auch nur irgendwann einmal krank werden könnten, sehr viel zu sagen hat. Auf diese Art, die man einfach lieben muss.

Warum ich entgegen meiner Gewohnheiten hier so jubiliere? Dafür gibt es mehrere Gründe: Sie hat sich das zum heutigen Tag ihrer Amtseinführung in ein neues Leben verdient. Ich möchte ihr das aber auch als Antwort geben auf ihre Frage, ob sie denn weiterbloggen solle. Verrückt, wenn sie auch nur drei Minuten ans Aufhören gedacht hätte! Und ich gehe einen Schritt weiter: Ich möchte endlich, endlich ein Buch von Inge Wollschläger lesen, in einem richtig guten, seriösen Verlag. Nach Jahrzehnten im Buchgeschäft habe ich es im kleinen Finger, wenn jemand das Zeug dazu hat. Es müsste sich jemand des Stoffs annehmen, der ihn nicht als nebensächliche Nettigkeit in niedlicher Aufmachung statt Pralinen für den Besuch an Tante Ernas Krankenbett aufmachen würde. Ich wünsche mir als Leserin und ihr als Autorin, dass ihre Texte ernstgenommen würden in ihrer überschäumenden Lebendigkeit auf jenem menschlichen Grat zwischen der Tragik im Alltag und einem befreienden Lachen. Früher, glaube ich, hat man diesen Zustand Hoffnung genannt.

Blog Notaufnahmeschwester
Podcast Rufbreitschaft

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